Sägekunst mit Motorkraft

Hummelsbüttel Robuste Jungs und Deerns bringt Sabine Ruhle für ihre Ausstellung „Augenblicke – Augenweide“ ins Stadtteilbüro Tegelsbarg. Vom 20. Januar bis 11. Februar sind am Norbert-Schmid-Platz neben Kollagen und Schachtelbildern auch Figuren zu sehen, die die Hummelsbüttlerin mit der Kettensäge geschaffen hat: Herr Sturm, der mit Mühe seine Elbsegler-Mütze festhält, Kinder, die sich huckepack nehmen, eine anmutige, junge Frau mit Pferdeschwanzfrisur – alle knie- oder hüfthoch und farbenfroh „bekleidet“.

Vor gut sechs Jahren entdeckte die experimentierfreudige Künstlerin die rustikale Schnitzkunst für sich. „Es ist spannend, aus totem Holz etwas lebendig Wirkendes entstehen zu lassen“, erklärt die 59-Jährige. Neben ihrem Gartenhäuschen stapeln sich Baumstämme, Abschnitte und beindicke Äste von Linden, Buchen, Kastanien, Pflaumen- und Apfelbäumen. Bereits im Holzrohling entdeckt sie, was oder wer in ihm steckt. Waren es anfangs vor allem Hühner, sind es heute vor allem Menschen. Inspirationen bekommt sie aus Zeitschriften und Werbeanzeigen sowie von Fotos. Wichtig ist, dass die Figuren in Bewegung sind, dynamisch wirken – wie die Turngruppe auf dem Schwarz-weiß-Foto, das aktuell als Vorlage für eine neue Skulptur dient.

Alle Kunstwerke werden in einem Stück aus dem Holz gefertigt – dafür braucht es Fingerspitzengefühl an der wuchtigen Kettensäge. „Wenn ich nur einen Moment nicht aufpasse, sind Nase oder Hand einer Figur ab“, sagt Sabine Ruhle lachend. Vor unliebsamen Überraschungen ist sie dennoch nicht gefeit: Beim anschließenden Trocknen kann das Holz reißen. Geht der Spalt etwa mitten durchs Gesicht, landet das Kunstwerk auch mal im Kaminofen.

Bereits vier Mal war die Künstlerin bei der AlsterART dabei, 2019 gewann sie den Publikumspreis der FORM-A(R)T in Glinde. Die Vernissage am Tegelsbarg findet am 20. Januar um 18.30 Uhr mit musikalischer Begleitung von Bruni Regenbogen und ihrer elektrischen Geige statt. Der Eintritt ist frei. Weitere Infos unter www.saegemael.de.

Irritationen auf dem Friedhof Wohldorf

Wohldorf Kurz vor dem dritten Advent stehen Thomas und Freya Rilinger fassungslos auf dem Waldfriedhof Wohldorf. Direkt an der Kante der Ruhestätte ihres Sohnes sieht es aus, als ob ein tonnenschwerer Bautrupp durchgezogen wäre. Tiefe Furchen haben den schmalen Weg aufgerissen; auf zehn Zentimeter Tiefe ist das Erdreich von einem großen Raupenfahrzeug zerwühlt worden. Überall auf den mit Tannenzweigen abgedeckten Grabstätten liegt eine dicke Schicht Holzspäne. Von „idyllischer Atmosphäre“, wie auf der Homepage des Friedhofs angepriesen, keine Spur.

Der Borkenkäfer sei schuld, heißt es von der Friedhofsverwaltung, der habe massenhaft Fichten auf dem Gelände angegriffen und nun müssten 60 bis 70 Nadelbäume gefällt werden, um die weitere Ausbreitung des gefräßigen und gefährlichen Schädlings zu verhindern.

„Selbstverständlich haben wir Verständnis für die nötigen Arbeiten, aber hätten die nicht verlegt werden können, statt sie so kurz vor Weihnachten stattfinden zu lassen? Das ist pietätlos, unsensibel und gedankenlos“, sagt Thomas Rilinger. Drei Mal pro Woche besucht der 63-Jährige mit seiner Frau den verstorbenen Sohn – seit zehn Jahren. Die Ruhestätte ist immer geschmückt mit Blumen, einem Buddha und vielen kleinen Engelfiguren, zu denen sich in der Adventszeit Weihnachtsmänner und Rentiere gesellen – „die ich alle mühselig mit dem Handfeger von den Sägespänen befreien musste“, erzählt Freya Rilinger vorwurfsvoll und fügt hinzu: „Es sieht hier aus wie auf einer Baustelle und nicht wie auf einem Friedhof, auf dem man seinen Lieben nahe sein kann.“

Von den Friedhofsmitarbeitern erwartet die 65-Jährige Rücksicht, Sorgfalt und Fingerspitzengefühl – nicht nur was die gärtnerischen Arbeiten angehe, sondern auch den Umgang mit ihnen persönlich. „Wir haben mehrmals per E-Mail auf Missstände hingewiesen, eine Antwort kam jedoch nie“, beschwert sich Thomas Rilinger.

Die kommt nun von Lutz Rehkopf aus der Unternehmens-Pressestelle Hamburger Friedhöfe, das die Parkfriedhöfe Ohlsdorf und Öjendorf, sowie die Waldfriedhöfe Volksdorf und Wohldorf betreibt. „Wir bedauern die aktuellen Fällarbeiten, die sich jedoch notwendig sind. Anfang Dezember ist gemeinhin die Saison für die meisten Besucher der Friedhöfe vorbei. Daher bitten wir sie um Verständnis, denn wir können nicht allen Ansprüchen gerecht werden. Aus Kostengründen konnten keine Stahlplattenabdeckung für die Wege verwendet werden. Zudem müssen wir Kompromisse hinsichtlich Ressourcen und Zeit machen; unser Personal und die Maschinen sind schließlich auf vier Friedhöfen im Einsatz.“

Vor Weihnachten sollen alle Fäll- und Rodungsarbeiten beendet sein und die Wege wieder hergerichtet sein. Borkenkäfer resistente Nachpflanzungen folgen im kommenden Frühjahr, damit der Waldfriedhof Wohldorf seinem Namen gerecht wird.

Anerkennung für Vereine in Volksdorf und Bergstedt

Duvenstedt Mit dem Umwelt- und Sozialpreis zeichnet der Regionalausschuss Walddörfer herausragende Projekte in den nördlichen Stadtteilen aus. Die Prämie von 400 Euro teilen sich in diesem Jahr die Vereine „Durch Erleben lernen“ aus Volksdorf und „StrassenBLUES“ aus Bergstedt.

In ihrer Laudatio während der Ausschusssitzung vergangenen Donnerstag im Duvenstedter Max-Kramp-Haus lobte die Vorsitzende Anja Quast das große Engagement der Preisträger: „Alexandra und Lars Warnke sind wahrlich beseelt von Umweltpädagogik. In ihrer ‚Naturschule Wilde Zeiten‘ sorgen sie bei Kindern und Jugendlichen für nachhaltiges Lernen. Sie vermitteln Wertschätzung für den Umgang mit der Natur, lehren ökologischen Landbau, wirken der Supermarktkultur entgegen und schärfen das Bewusstsein für vertretbaren Fleischkonsum. Zudem setzen sie sich mit ihrem Verein ‚Durch Erleben lernen‘ aktiv für die Erhaltung bedrohter Nutztierrassen ein.“

Vor drei Jahren ging der Verein eine Kooperation mit der Stadtteilschule Walddörfer ein, die seitdem für die Jahrgänge acht bis zehn den Profilkurs „Zukunft“ anbietet. Jeweils drei Unterrichtsstunden pro Woche verbringen die Schüler auf dem 2,5 Hektar großen Gelände einer ehemaligen Gärtnerei in der Schemmannstraße. „Gummistiefel sind bei uns angesagter als Sneakers“, sagt Initiator Lars Warnke augenzwinkernd. Gemüse anbauen, Pflanzen setzen, Eier einsammeln, Schweine füttern, ausmisten, das erfordere taugliche Arbeitskleidung, denn hier wird Nachhaltigkeit nicht aus dem Schulbuch gelehrt, sondern hautnah erlebt – mit allen Mühen und Tücken der Natur. „Zum Abschluss jedes Schuljahres belohnen sich die Schüler durch eine reiche Ernte“, so Umweltpädagoge Lars Warnke und freut sich über die erhaltene Auszeichnung.

Der zweite preiswürdige Verein wirkt von Bergstedt aus. „Seit gut zwei Jahren zeigt ‚StrassenBLUES e.V.‘ kreative Wege aus der Armut und sorgt auf neue Art für nötige Aufmerksamkeit für das Thema Obdachlosigkeit. Menschen im Schatten der Gesellschaft erhalten eine ‚Bühne‘ für ihre Talente. Zudem bringt der Verein Menschen mit und ohne Zuhause zusammen und schafft durch Aktionen Möglichkeiten der Begegnung“, so Anja Quast vor den Mitgliedern des Regionalausschusses sowie zahlreichen Zuhörern.

Nikolas Migut, Gründer und Vorsitzender von „StrassenBLUES e.V.“ freut sich über die positiven Worte: „Dieser lokale Preis ist für uns wichtiger als jede überregionale Auszeichnung, weil er von Wertschätzung der örtlichen Politik und Gesellschaft für unsere Arbeit zeugt – und das motiviert ungemein.“ Jeder hat ein Talent, man muss es nur heben – lautet das Credo der Vereinsmitglieder. Auf der Straße suchen sie Menschen, die eine Begabung für Musik, Literatur oder Handwerkliches haben. Im Anschluss produzieren sie gemeinsam mit Obdachlosen etwa einen Song, veröffentlichen Gedichte oder Fotografien. „Durch ihre kreative Arbeit erhalten Obdachlose wieder eine Wertschätzung, die Mut macht auf dem Weg zurück in die Gesellschaft“, erklärt Nikolas Migut. Und: „Wir möchten Menschen auf Augenhöhe zusammenbringen.“ Nach der erfolgreichen Aktion „Strassenweihnachtswunsch“ plant das Team erstmals individuelle Treffen, bei denen Unterstützer Obdachlosen deren Geburtstagswünsche erfüllen können.

Mit Naturwissenschaften auf der Überholspur

Hummelsbüttel Backpulver-Vulkane basteln, Münzen vergolden, Kosmetika herstellen, Mehlstaub-Explosionen auslösen – für den naturwissenschaftlichen Nachmittag hatte sich das Kollegium des Gymnasium Hummelsbüttel viele kuriose Aktionen und Versuche aus den Bereichen Biologie, Chemie und Physik ausgedacht. Eingeladen waren alle Schüler der fünften bis siebten Klassen sowie potentielle Fünftklässler umliegender Grundschulen, die nach ausgiebigem Experimentieren in die Pausenhalle strömten, um dort mit rasanten Autos auf die Rennstrecke zu gehen.

Vor gut einem Jahr brachte Lehrerin Inga Pastorino die Idee einer Formel 1-AG an die Schule und fand mit sechs Neuntklässlern sofort engagierte Teilnehmer. Ihre Aufgabe lautete, an einem multidisziplinären, internationalen Technologie-Wettbewerb teilzunehmen und für den einen Miniatur-Formel 1-Rennwagen am Computer entwickeln, aus einem Kunststoffblock fertigen und abschließend ins Rennen schicken.

„Wir möchten die Faszination des Rennsports nutzen, um Schülern aktiv Einblick in Produktentwicklung, Technologie und Wissenschaft zu geben und entsprechend Berufschancen aufzuzeigen“, erklärte Cornelia Hagenow von der Stiftung Nordmetall, die den Wettbewerb in Norddeutschland mit unterstützt.

Auf der 20 Meter-Bahn startete erstmals der aktuelle Prototyp von „Team Secret“, das im Februar bei der Hamburg-Meisterschaft auf Anhieb den siebten Platz unter 15 Teilnehmern erreichten und den Newcomer-Preis abräumten. „Wir haben starke Konkurrenz aus der Nachbarschaft, das Gymnasium Grootmoor wurde 2011 sogar Vize-Weltmeister“, weiß Team-Manager Paul (15).

Für den Wettbewerb der mit Gaspatronen angetriebenen Mini-Boliden ist nicht nur Schnelligkeit gefragt. „Wir müssen ein Portfolio erstellen, eine Power Point-Präsentation vorbereiten, Plakate entwerfen und Sponsoren finden – alles fließt ins Endergebnis ein“, erklärt Lena-Marie (16). Kommenden Februar geht es für „Team Secret“ wieder an den Start. Wer die jungen Konstrukteur mit Geld- oder Sachspenden unterstützen möchte, meldet sich per Mail unter i.pastorino-meister@gymhum.de.

Vom Uhlenbusch ins kleinste Theater der Welt

Meiendorf Die Haustür steht einladend offen und unter einem imposanten Trompetenbaum ist für Kaffee und Kuchen gedeckt. „Wir haben gerne Gäste“, sagt Christiane Leuchtmann bei der herzlichen Begrüßung.

Mit dem äußerlich schlichten, roten Backsteinhaus aus den 1940ern war es Liebe auf den ersten Blick. Gleiches gilt für das Schauspieler-Ehepaar Christiane Leuchtmann und Hans Peter Korff, die seit 23 Jahren in Meiendorf ihr Zuhause haben. Und dass, obwohl die temperamentvolle Rothaarige gebürtige Münchnerin ist.

 

„Wir wollten unseren Sohn nicht mit dem bayerischen Schulsystem quälen, in dem kreative und künstlerische Kinder untergehen – ich spreche aus eigener Erfahrung“, betont Christiane Leuchtmann. „Der Horizont hier oben ist weiter und freier in mancherlei Hinsicht, außerdem hätte ich Hans Peter als eingefleischtes Nordlicht niemals in den Süden verpflanzen können. Der „Hamburger Jung“ nickt zustimmend, verbrachte er seine Jugend doch in Berne und Övelgönne, und probiert dabei den Himbeer-Cheesecake. Köstlich, so die einhellige Meinung.

 

Hans Peter Korff, Charakterkopf auf der Bühne und Quotenbringer in Film- und Fernsehproduktionen, berühmt als Onkel Heini in „Neues aus Uhlenbusch“ und als Familienoberhaupt Siegfried in „Diese Drombuschs“ – dafür gab’s 1985 sogar die „Goldene Kamera“. Der 75-Jährige ist ein gefragter Darsteller.

Christiane Leuchtmann, Vollblut-Theaterschauspielerin und Preisträgerin des Darstellerpreises der Akademie der Künste Berlin spielte zwölf Jahre an den Staatlichen Schauspielbühnen Berlins sowie zahlreichen deutschen Bühnen, war aber auch stets präsent in vielen TV-Produktionen wie „Adelheid und ihre Mörder“ oder „Praxis Dr. Mertens“.

 

 

Beide Mimen lernten sich in Berlin auf der Bühne zu Proben eines Schiller-Abends kennen und sind seitdem privat und beruflich verbunden. So entwickelten die kreativen Eheleute ein eigenes künstlerisches Format für sich. Seit 15 Jahren sind sie erfolgreich mit szenischen Lesungen in ganz Deutschland unterwegs. Mit herkömmlichen Leseabenden, bei denen oft nicht nur dem Publikum, sondern auch dem Vortragenden die Augen zufallen, hat das allerdings nichts zu tun. „Bei uns geht die Post ab; wir spielen die Texte mit vollem Körpereinsatz. Mimik, Gestik, alles ist dabei. Wir bieten auf der Bühne nicht nur Lesekunst auf höchstem Niveau, sondern auch das kleinste Theater der Welt“, erklärt die 58-Jährige.

 

 

16 verschiedene Programme hat das Paar im Repertoire – darunter vielversprechende Titel wie „Rosenkrieg und Rosen kriegen“ oder „Zähne einer Ehe“. Mit letzterem brillierten die Künstler Anfang des Jahres in der ausverkauften Volksdorfer „Koralle“. „Ein wunderbares Ambiente, das uns sehr gefallen hat“, begeistert sich Hans Peter Korff und verrät, dass es am 10. Februar 2019 ein Wiedersehen am selben Ort geben wird – zwar mit selbem Titel, aber dennoch anders.

„Jeder unsere Auftritte ist ein Unikat“, versichert die Schauspieldozentin, „es gibt jeweils eine Grobplanung, aber vor allem ganz viel Improvisation.“ „Routine ist nicht“, pflichtet Hans Peter Korff bei. Dürfe auch nicht, weil jedes Publikum anders sei.

„Wir testen anfangs immer, was den Zuhörern zuzumuten ist“, sagt Christiane Leuchtmann augenzwinkernd. In Hamburg und Berlin gäbt es keine Tabu-Themen, „aber in manchen Landstrichen dürfen nix Erotisches bringen. Dann gefriert den Zuschauern das Lächeln innerhalb von Sekunden.“

 

In den sorgfältig ausgewählten Texten kommen renommierte Literaten wie Tucholsky bis zu aktuellen Autoren wie Sophie Andresky zu Wort, beleuchten humorvoll bis satirisch allzu Menschliches – wie auch die Ehe.

Auf der Bühne beim Duo Leuchtmann/Korff fliegen bisweilen wort- und gestenreich die Fetzen. „Interpretationen über das private Eheleben überlassen wir dem Publikum“, sagen beide schmunzelnd. Wohlwissend, wie eine gute Partnerschaft funktioniert, denn im vergangenen Jahr wurde Silberne Hochzeit gefeiert.

Ein Geheimnis sei eine gelungene Mischung aus Nähe und Abstand. Auf Tour buchen die Künstler generell zwei Hotelzimmer. „Die Zeit mit gemeinsamer Anreise und Auftritt ist so intensiv, dass wir uns voneinander erholen müssen“, erklärt der Schauspieler. Auch in Meiendorf hat jeder seinen Rückzugsort: Leuchtmann im Wohnzimmer und Korff in der Küche, in der er zum Leidwesen seiner Frau gern deftige Speisen wie Grünkohl oder Grützwurst brutzelt.

Vor Kurzem gründete die Künstlerfamilie mit Sohn Johannes Valentin, der zurzeit seinen Master in Heidelberg macht, die Künstleragentur „Publikumsliebling“.

 

Und dann gibt es zum Abschluss des Besuchs im wahrsten Sinn des Wortes einen Rundgang durchs Haus: Kurios, denn alle Zimmer sind über eine Wendeltreppe zu erreichen. Ganz oben unterm Dach befindet sich das „Theater im Oberstübchen“ – „eigenhändig ausgebaut“, versichert Hans Peter Korff – mit flexibler Bühne, Vorhang und vielen Stühlen. Hier erfolgt die Feuertaufe für neue Stücke und Pointen vor Freunden und Nachbarn. „Ein ehrliches Publikum, das sich niemals durch Himbeer-Cheesecake beeinflussen lassen würde“, beteuert die Hausherrin schelmisch lächelnd.

Oster-Charity-Aktion im AEZ

Poppenbüttel Knallgelbe Platzteller, darauf buntes Motivporzellan mit passenden Bechern, quietschgrüne Glasvasen samt gefüllter Tulpen neben weißen Keramikhasen und -eiern – so sieht für Isabel Edvardsson der perfekt gedeckte Ostertisch aus. Im Alstertal-Einkaufszentrum beweisen die aus der TV-Tanzshow „Let’s dance“ bekannte 35-jährige Profi-Tänzerin sowie sieben weitere Promis, dass sie ein Händchen fürs Dekorieren haben.

Besucher können bis zum Ostermontag in einer stillen Auktion vor Ort ihre Gebotskarten abgeben und ihr festliches Lieblingstischwerk ersteigern (Mindestbetrag 50 Euro) – der Erlös kommt der Peter Ustinov Stiftung zugute. Eigens war sogar dessen Sohn Igor angereist, um ebenfalls eine opulente Tafel zu kreieren und auf die von ihm und seinem Vater, einem berühmten britischen Schauspieler, gegründete Organisation aufmerksam zu machen. Durch sie werden seit 1999 weltweit Hilfs-, Schul- und Kreativprojekte für Kinder und Jugendliche unterstützt.

Als Mutter von neunjährigen Zwillingen hat Bettina Cramer für die Benefiz-Aktion sofort zugesagt. „Am liebsten würde ich die Tisch-Deko sogar selber ersteigern, so sehr gefällt sie mir“, bekannte die Sat.1-Moderatorin. Mit 500 Euro „Ostergeld“ ausgestattet hatte sie sich wie alle weiteren Promis in diversen Läden im AEZ inspirieren lassen und eingekauft. „Ich liebe flämischen Chic und Landhausstil, Grau- und Rosétöne“, sagt die 48-Jährige. Auch zuhause dekoriere sie „wahnsinnig gerne“. Ein absolutes Muss: farbenfrohe Accessoires und stets frische Blumen. „Ein festlich und schön gedeckter Tisch ist zudem ein Ausdruck der Wertschätzung für meine Gäste. Das haben auch meine Kinder bereits gelernt und sind mit Feuereifer dabei, wenn eine Feier ansteht.“ Wie an Ostern – dann steigt im Hause Cramer eine große Party mit Familie und Freunden. Für die TV-Moderatorin heißt das: früh aufstehen – nicht, weil der Tischschmuck so aufwändig wäre, „sondern weil ich heimlich Schoko-Eier im Garten verstecke“, sagt sie mit Vorfreude.

Beim Bummel durchs Einkaufszentrum entdecken Besucher weitere Festtagstische gestaltet von Model Alena Fritz, Schauspielerin Janine Kunze, Mister Germany Dominik Bruntner, Boxerin Susianna Kentikian sowie Moderator und Musiker Maximilian Arland.

Vom Schulhof in die Elphi

Sasel/Bramfeld Duru, Mia und Chanel geben am 15. April ein Konzert in der Elbphilharmonie. Die neun- und zehnjährigen Mädchen spielen erst seit zwei Jahren Querflöte, doch „Wunderkinder“ sind sie dennoch nicht. „Unsere Schule Alsterredder hat sich bei ‚Schulen musizieren’, einem Projekt des Bundesverbandes Musikunterricht in Kooperation mit HamburgMusik, beworben und wir freuen uns riesig, bei dem Konzert dabei sein zu dürfen“, sagt Ines Reimann-Plath. Die Musikpädagogin betreut das 28-köpfige Ensemble aus Dritt- und Viertklässlern, das aus dem Hamburger Bildungsprogramm „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) hervorgegangen ist.

Wie sie hatten 24 weitere Schulen Videos von Proben oder Auftritten eingeschickt – sechs Orchester, Chöre und Bands wurden von einer Jury nach musikalischer Qualität, pädagogischer Inspiration und Vielfalt des Konzertprogramms ausgewählt.

Mit dabei am 15. April im Kleinen Saal der Elbphilharmonie ist auch das Oberstufen-Musikprofil des Gymnasiums Grootmoor. Aus elf talentierten Schülern der elften Klasse hat Musiklehrerin Marion Leist ein Orchester geformt, das die Zuhörer mit seiner Improvisationskunst begeistern wird. „Die jungen Musiker machen jedes ihrer Stücke zu ihrem eigenen – sei es durch Phrasierung, Body-Percussion, Gesangseinlagen oder Tanz-Choreografie“, berichtet die Pädagogin.

Vier Proben bleiben den kleinen und größeren Instrumentalisten bis zum großen Tag. Noch dominiert die Vorfreude vor der Anspannung, „zumal es das erstes Konzert außerhalb der Schule ist – das gibt Ansporn“, sagt Marion Leist.

Jeweils 15 Minuten darf sich jedes Schulensemble präsentieren; am Ende des Konzertes gibt es ein gemeinsames Stück unter Leitung der Jazzsängerin Ulita Knaus.

Von den Schülern waren einige schon in der Elphi – allerdings nur auf der Plaza. Amelia (8) hat immerhin schon ein Konzert im Großen Saal gehört; Carolin stand dort mit ihrer Oboe als Mitglied des Mendelssohn Jugendorchesters auf der Bühne. „Das Konzerthaus hat eine besondere Atmosphäre und eine wunderbare Akustik. Es ist eine Auszeichnung für uns, dass wir als Musikprofil-Orchester auch dort spielen dürfen“, sagt die 16-Jährige.

Große Klappe - viel dahinter

Mit der Handpuppe Werner Momsen hat Detlef Wutschik eine Figur entwickelt, die den Norddeutschen aus der Seele spricht – sogar „op Platt“

 

 

Werner Momsen ihm seine Art ist unnachahmlich, ja einzigartig in Norddeutschland – ach was, in der gesamten Nation. Er bringt auf den Punkt, was die Nordlichter bewegt, schaut ihnen auf die Finger, in die Seele und ihre Kochtöpfe. Und dann gibt er seinen Senf dazu – immer höflich, aber bestimmt.

 

Das weiß keiner besser als Detlef Wutschik, der täglich mit selbigem Herrn zusammen ist – ob er will oder nicht. „Er ist mein Vorgesetzter“, sagt der 50-Jährige augenzwinkernd. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Künstler bringt die mannsgroße Handpuppe mit Konfektionsgröße 50 zum Leben.

 

Funk, Fernsehen, Facebook

 

Als Außenreporter von „DAS!“, der NDR-Fernsehsendung mit dem roten Sofa, hat sich der Klappmaulkomiker aus Polypropylen einen Namen gemacht und ist häufiger Gast bei norddeutschen Veranstaltungen. Sogar den Hansemarathon ist er schon drei Mal gelaufen und trainiert auf seinem Facebook-Account – äußerst talentiert – im Ballettröckchen für „Let’s dance“. Radiohörer beglückt er regelmäßig auf NDR 90,3 mit der plattdeutschen Morgenplauderei „Hör mal’n beten to“.

Denn Momsen spricht zwei Sprachen fließend: Norddeutsch und Niederdeutsch. „Plattdeutsch ist ein Kulturgut, das es zu erhalten gilt. Für mich ist es ein Stück Heimat und Romantik“, erklärt Puppenspieler Detlef Wutschik.

 

Zeit fürs Theater muss sein

 

Geprägt von seinen Großeltern und dem Malereibetrieb seines Vaters in Achim wuchs er mit „Bremer Platt“ auf. Theater faszinierte ihn schon früh. „An der Schule habe ich Marionettentheater gespielt, stand mit der ‚Speeldeel’ auf der Bühne und wollte Figurentheater in Stuttgart studieren“, erinnert er sich. Das klappte leider nicht, stattdessen wurde er Berufschullehrer – in Teilzeit, damit genügend Zeit für Comedy und Theater blieb. „Montag und Dienstag war ich in der Schule, den Rest der Woche habe ich Texte geschrieben und Auftritte als Solist oder mit Kollegen an Spielorten in ganz Deutschland vorbereitet.“

Vor rund 20 Jahren trat die Figur Werner Momsen ins Scheinwerferlicht. Aus dem rüstigen Rentner, der sich in Bühnenprogrammen, Funk und Fernsehen über die Widrigkeiten des Alltags aufregt, ist mit den Jahren ein eloquenter älterer Herr geworden, den auch aktuelle politische Themen wie etwa die Flüchtlingsproblematik interessieren und dazu seine Meinung sagt. „Es stehen immer noch die Alltagsgeschichten im Vordergrund, aber die Metaebene und meine Haltung zur Gesellschaft sind zunehmend wichtiger im Programm – werden aber immer mit Leichtigkeit beleuchtet“, sagt Detlef Wutschik.

 

Momsen trifft Spiekermann

 

Mal auf Hochdeutsch, mal „op Platt“ – und so darf er auf keinen Fall bei den 2. Plattdeutschen Kulturtagen „Snack mol wedder Platt!“ vom 28. September bis 15. Oktober in Hamburg fehlen. Neben Konzerten, Lesungen, Vorträgen, Theaterstücken, Filmen und Führungen freuen sich die Besucher auf einen Schlagabtausch der besonderen Art: Herr Momsen und Plattdütsch-Ikone Gerd Spiekermann stehen am 7. Oktober zusammen auf der Bühne der Walddörfer Wohnungsbaugenossenschaft im Volksdorfer Damm in Bergstedt und tauschen sich unterhaltsam über die Absurditäten des Lebens aus – beste Unterhaltung garantiert. Der Kartenvorverkauf startet am 1. September im Walddörfer Sportforum, Halenreie 32-34 in Volksdorf.

Hilfe für die Seele

Der Verein Hölderlin berät, begleitet und unterstützt psychisch Erkrankte in Volksdorf

 

Depression ist eine anerkannte Volkskrankheit, dennoch werden Betroffene häufig stigmatisiert und gesellschaftlich ausgegrenzt. „Viele sprechen lieber von ‚Burn out’ – das klingt gefälliger und zeitgemäßer, täuscht aber nicht darüber hinweg, dass sie Hilfe brauchen“, sagt Peter Borchardt, Leiter des Vereins Hölderlin. Die Einrichtung im Herzen Volksdorfs unterstützt seit fast 25 Jahren Menschen, die unter Depression leiden, an Schizophrenie erkrankt sind, Psychosen oder andere schwere psychische Probleme haben. Auslöser können genetische Anlagen, hohe Sensibilität , Überforderung durch Schule, Studium oder Beruf, Schicksalsschläge, traumatische Erfahrungen, aber auch Lebensveränderung sein etwa durchs „Eltern-Werden“. Oftmals werden Belastungen über lange Zeit kompensiert, bis schließlich alles kollabiert. Viele Klienten sind in ärztlicher Behandlung oder waren bereits in einer Fachklinik.

 

Aus Förderkreis wurde ein Verein

 

„Anfang der 1990er Jahre waren die Walddörfer ein weißer Fleck in puncto ambulanter Unterstützung für Betroffene“, erklärt der erfahrene Sozialarbeiter und Therapeut. Er gab nicht nur den Impuls, 1992 einen Förderkreis und ein Jahr später Hölderlin e.V. zu gründen, sondern zeichnet auch verantwortlich für die konzeptionelle Ausrichtung des Psychosozialen Zentrums Volksdorf. Mit 32 Plätzen nahm der junge Verein 1993 die Arbeit der Tagesstätte in der Claus-Ferck-Straße hinter der Tankstelle auf. Zehn Jahre später folgte der Umzug ins „Frank’sche Kontor“. „Ohne Vorbehalte und mit großem Interesse des Vermieters für unsere Arbeit – bis heute“, wie Peter Borchardt dankbar betont.

 

Struktur und Stabilität für den Alltag

 

Rund 70 Besucher hat die Einrichtung – viele kommen täglich und über Jahre hinweg –, zudem eine Zweitstelle in Ahrensburg und drei ambulant betreute Wohngruppen in Duvenstedt. Ziel ist, den Menschen Alltagsstruktur, Stabilität und sinnvolle Beschäftigung zu geben. „Sie finden bei uns einen geschützten Bereich, in dem sie angenommen, respektiert und gefördert werden“, sagt Barbara Claußen von der Geschäftsführung des Vereins. „Unsere Mitarbeiter zeichnen sich durch fachliche Kompetenz, Empathie und Verantwortungsbewusstsein aus und sind vom ersten Augenblick auf Augenhöhe mit dem Klienten – das schafft eine Atmosphäre des Geborgenseins und des Wohlfühlens. Schon eine entsprechende Grundhaltung kann etwas Heilendes für tief verunsicherte Menschen haben.“

 

Suche nach einem Sinn im Leben

 

Die Angebote sind vielfältig und die Therapeuten im engen und vertrauensvollen Austausch miteinander. Von Kunstgruppen, Chor und Theater über Schreibwerkstatt, Philosophiegruppe und Band bis hin zu Walking- und Sporttreffen sowie Einzelbetreuung lernen die Besucher wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. „Es geht darum, Rückzug und Isolation zu überwinden, mit Anderen ins Gespräch zu kommen, Interessen zu wecken, Neues zu entdecken und sich etwas zuzutrauen“, erläutert Peter Borchardt, „kurz gesagt, wieder einen Sinn im Leben zu finden.“ Farben, Töne und Buchstaben helfen niedrigschwellig, sich in Sinnkrisen ausdrücken zu können. Oftmals sind die Betroffenen erstaunt, welche Fähigkeiten in ihnen stecken – und auch die Öffentlichkeit. Regelmäßig werden Kunstwerke etwa in umliegenden Arztpraxen ausgestellt und Artikel in der „Hölderlin-Zeitung“ veröffentlicht. Die Band „Stormy Life“ tritt Hamburg weit auf Veranstaltungen und Familienfeiern auf.

 

Austausch unter Angehörigen

 

„Erfolge steigern Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl“, verdeutlicht der 65-Jährige. Er wird im Februar 2018 seinen Posten an den langjährigen Kollegen Michele Quacquarelli übergeben, der die fachliche Arbeit von Hölderlin e.V. weiterführen wird. Eine wichtige Arbeit ist auch die offene Angehörigengruppe, die sich jeden dritten Mittwoch im Monat von 17 bis 19 Uhr nach Anmeldung in Volksdorf trifft, um Gedanken, Sorgen und Problemlösungen auszutauschen, Verständnis für die Erkrankten zu entwickeln und sie ebenfalls unterstützen zu können. Claudia Blume

 

 

Dichter Hölderlin als Namensgeber

 

Der Name der Einrichtung geht auf den deutschen Dichter Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843) zurück, der 1806 wegen des „Zustandes geistiger Verwirrung“ in eine Klinik eingewiesen wurde. Nach seiner Entlassung sagten ihm die Ärzte nur noch drei Lebensjahre voraus. Dank der Pflege eines Schreinermeisters wurden daraus 36 Jahre, die der Poet in dessen Haus in Tübingen verlebte, dichtete, zeichnete und Klavier spielte – eine Frühform außerklinischer, ambulanter Versorgung und Förderung eines psychisch Erkrankten.

Ganz normaler Familienwahnsinn, oder nicht?

Birte Müller ist Bilderbuchillustratorin, Autorin und Mutter eines behinderten Sohnes

 

„Ich habe deutlich mehr Ideen als Zeit“, sagt Birte Müller lachend und stopft eilig die Geranie in einen Gummistiefel, der statt eines Blumenkastens fröhlich am Fenstergeländer ihres Endreihenhauses baumelt. Neben einem selbst diagnostizierten „Bastelzwang“ seit Kindertagen, der die Anfertigung von kreativen Geschenken aller Art, Faschingskostüm-Schneiderei und das Gestalten von allerlei Krimskrams beinhaltet, schreibt die Volksdorferin Bücher und Kolumnen für „Spiegel online“ und „a tempo“ sowie Drehbücher, illustriert Bilderbücher, die in über 20 Ländern verlegt sind und veranstaltet Workshops und Lesereisen rund um den Globus.

 

Herausforderung Down-Syndrom

 

Als sprudelnde Inspirationsquelle fungiert größtenteils die eigene Familie. Das sind neben Ehe- und Kameramann Matthias ihre gemeinsamen Kinder Willi und Olivia. Während die Achtjährige mit einem „Normal-Syndrom“ auf die Welt kam, brachte Willi vor zehn Jahren das Down-Syndrom mit. Das macht den ganz normalen Familienwahnsinn noch ein Stück mehr herausfordernd – manchmal auch überfordernd.

Und über das alles schreibt Birte Müller – über ihre Sorgen und Freuden, entwaffnend offen, selbstkritisch und humorvoll. „Es sind Episoden aus unserem Alltagsleben mit einem behinderten Kind in einer vermeintlich so integrativen Gesellschaft, die ständig nach Leistung des Einzelnen fragt“, sagt die 44-Jährige. Gerade hat sie erfahren, dass ihr am 14. September anlässlich des Harbour Front Literaturfestivals den mit 3000 Euro dotierten Preis „Hamburger Tüdelband“ verliehen wird – „Wahnsinn, ich freu’ mich riesig.“

Aus ihrer langjährigen Kolumne „Willis Welt“ entstand 2014 das gleichnamige Buch; in diesem Jahr erschien die Fortsetzung „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Themen wie Einschulungsirrsinn, Therapieterror und Premiumkinder werden von Birte Müller schonungslos und doch augenzwinkernd unter die Lupe genommen. „Die Bücher sind ein Plädoyer für Menschen, die besondere Geschenke sind“, sagt die Autorin und zitiert den Lyriker Erich Fried: ‚Das Leben wäre vielleicht einfacher, wenn ich Dich nicht getroffen hätte. Es wäre nur nicht mein Leben.’

 

Bilderbücher sollen Spaß machen

 

Doch die hyper-kreative Hamburgerin, die in der Hansestadt Illustration und in Mexiko freie Malerei studiert hat, schreibt nicht nur unterhaltsame Bücher für „Große“. Ihre farbenfroh illustrierten Bilderbücher wie etwa „Auf Wiedersehen, Oma“, „Fritz Frosch pupst“ oder „Weißt Du auch was in der Nacht Fledermausi gerne macht?“ erzählen anrührende, aber auch spannende Geschichten für kleine Leute. „Es muss nicht immer pädagogisch wertvoll sein, ein Buch soll in erster Linie Spaß machen“, sagt die Künstlerin.

2012 erschien eines ihrer emotional wohl wichtigsten Bilderbücher: „Planet Willi“, das sogar für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war. In naiv gemalten Bildern erzählt es von einem besonderen Kind, das von einem anderen Planeten kommt und es auf der Erde manchmal schwer hat, sich zurechtzufinden. Aber es liebt das Leben sehr und wir Erdenmenschen können noch viel von ihm lernen. Mit starken Bildern und starken Worten nimmt Birte Müller kleine und große Leser mit auf die Reise in die Welt ihres Sohnes Willi und vermittelt ausdrucksstark das Thema Andersartigkeit und Behinderung.

 

„Welches Kind magst Du lieber?“

 

Einladungen in Hamburger Grundschulen zeigen die Bedeutsamkeit für das Thema. „Bei meinen Lesungen habe ich auch Filme und Fotos von Willi dabei, damit die Kinder sehen, dass er ‚echt’ ist.“ Die Mädchen und Jungen seien generell neugierig, möchten Zeichen aus der Gebärdensprache lernen und fragen frei heraus, etwa welches ihrer Kinder Birte Müller wohl lieber hat. „Ganz klar: beide gleich!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Es sei schwierig zeitlich die Balance zu wahren, da Willi mehr Zuwendung benötige, „aber im Großen und Ganzen kriegen wir das alles gut hin.“

Durch „seine“ Bücher ist Willi ein bisschen „berühmt“. Manchmal wird die Familie auf Spielplätzen erkannt – der Preis für ein „öffentliches Leben“. Doch damit haben die Müllers kein Problem – auch Willis Schwester nicht. Olivia spricht den Text im Animationsfilm „Planet Willi“, den Sören Wendt 2015 drehte und gibt im KiKa vor der Kamera Basteltipps in der „Sendung mit dem Elefanten“. Kein Wunder, denn das Bastel-Gen hat die Achtjährige – ganz offensichtlich –von ihrer Mutter.

Gymnastik, Fußball und Boxen für gelungene Integration

Der Walddörfer Sportverein setzt sich als geförderter Stützpunktverein vielfältig in der Flüchtlingsarbeit ein

 

 

Sport ist eine Sprache, die ohne Worte auskommt. Sie ist international, multikulturell und überwindet alle Grenzen. Und so ist es für den Walddörfer Sportverein selbstverständlich, sich seit Gründung 1924 für Toleranz und Offenheit allen Menschen und Kulturen gegenüber einzusetzen und sich seit über 30 Jahren in der Flüchtlingsarbeit zu engagieren – unter anderem mit aktuellen Förderprogrammen wie „Kids in die Clubs“, das auch sozial benachteiligten deutschen Kindern offen steht.

 

Ausgezeichnet vom Hamburger Sportbund

 

„Seit April 2017 ist der Verein zudem Stützpunktverein des Programms ‚Integration durch Sport’ vom Hamburger Sportbund (HSB) und zählt somit zu 26 ausgezeichneten von rund 900 Vereinen in der Hansestadt, die zwei Jahre eine Förderung für die Arbeit mit Migranten erhalten“, berichtet der Integrationsbeauftragte Torsten Schubert. Mit dem einzigartigen Projekt „Gymnastik der Kulturen“ setzt der Verein Maßstäbe und wurde für die Idee des Frauensports in Kooperation mit einer Moschee als „Projekt des Monats“ vom HSB anerkannt.

Einmal in der Woche treffen sich rund zehn Frauen aus Syrien und Afghanistan, dem Iran und Irak mit Trainerin Anne Freese im Gymnastikraum des Walddörfer SV. „Wir machen lockeres Herz-Kreislauf-Training zu entspannter Chill-out-Musik, da die Damen im Alter von 50 plus in der Regel keinerlei Sporterfahrung haben und einige auch unter Übergewicht, Diabetes oder Arthrose leiden“, sagt die 35-jährige Physiotherapeutin. Ohne Kopftuch und mit viel Spaß an der Bewegung sind die Frauen bei den Übungen mit Bällen und Gewichten dabei – herzlich die Umarmungen für die Trainerin vor und nach der Sportstunde.

 

Sportbotschafter und Brückenbauer

 

Angeregt hat das ungewöhnliche Projekt Ali Reza Hassanzadeh. Der junge Afghane ist seit fünf Jahren in Deutschland und absolviert derzeit im Anschluss an ein Praktikum die Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann im Walddörfer SV. Mit der Taha e.V. Mahdee-Moschee in Wandsbek ist der 19-Jährige kulturell eng verbunden und fragte deren Gemeindemitglieder im Frühjahr, ob Interesse an Vereinssport bestünde. Obwohl diese Organisationsform vielen Migranten und Geflüchteten in ihren Heimatländern fremd ist, fanden sich gleich ein paar Interessierte – und so machen sich jeden Mittwoch immer mehr muslimische Frauen mit der U-Bahn auf den Weg nach Volksdorf.

Neben Torsten Schubert als Integrationsbeauftragter kommt Ali Reza im Stützpunktverein eine wichtige Rolle zu: Er fungiert als „Botschafter des Sports“, ist Brückenbauer zwischen den Kulturen, Vertrauensperson und Sprachmittler, da er Farsi und Dari beherrscht. „Doch immer wieder bekomme ich zu hören; ‚Sprich Deutsch, ich verstehe dich nicht’“, erzählt der junge Mann lachend. Das passiert vor allem beim Fußballtraining. Jeden Mittwoch treffen sich Ali Reza und Torsten Schubert mit jungen Nachwuchskickern auf dem Bolzplatz der Folgeunterkunft im Waldweg. Die Kinder und Jugendlichen sind mit Ehrgeiz dabei, lernen dribbeln, passen und schießen. Und obwohl – oder gerade weil – sie aus vielen verschiedenen Ländern stammen, spielen sie gut zusammen. Sogar verschossene Bälle werden zum Abschluss gemeinsam aus dem Unterholz gesammelt.

 

Krafttraining und Boxen in Erstaufnahmen

 

Der Walddörfer SV bietet noch weitere Integrationsprojekte. Im Richard Remé-Haus, einer Erstaufnahme-Einrichtung für Geflüchtete gibt es eine Mutter-Kind-Gruppe sowie Kraft- und Boxtraining für junge Männer. Auch wenn die Teilnehmer nahezu wöchentlich wechseln, da sie Termine und Sprachkurse wahrnehmen müssen oder verlegt werden, ist die Freude am Sport groß, denn er bedeutet für die meisten Freiheit und Abwechslung vom oft eintönigen Alltag in der Unterkunft. Mit der Erstaufnahme-Einrichtung am Höltigbaum besteht zudem eine Kooperation fürs Thai-Boxen. So nehmen unter anderem drei junge Frauen am regulären Vereinstraining teil – Integration gelungen.

„Gerne möchten wir noch weitere Sportangebote machen und stehen durch unser Netzwerk in engem Kontakt mit den örtlichen Einrichtungen“, betont Torsten Schubert. Der Verein lädt alle Sportinteressierten zu Vorführungen seiner verschiedenen Sparten und Gesprächen auf seiner „Welcome-Bühne“ beim Volksdorfer Stadtteilfest vom 1. bis 3. September ein.

Box-Training für Körper und Seele

Davide Mebrahtu hilft mit einem ehrenamtlichen Projekt Jugendlichen in schwierigen Situationen auf den Weg

 

Dieser Mann hat ein Händchen für Kopf und Seele: Kunden, die Davide Mebrahtu in seinem Volksdorfer Friseursalon in der Waldherrenallee besuchen, wissen, dass er sich nicht ohne Grund als „Stylist aus Leidenschaft“ bezeichnet. Herzlichkeit, Aufgeschlossenheit und individuelles Interesse sind nicht flüchtig, sondern vor allem eines: echt. Und dieselbe wertfreie Aufmerksamkeit bringt Davide Mebrahtu auch Jugendlichen und jungen Menschen entgegen, die er jede Woche als ehrenamtlicher Trainer eines außergewöhnlichen Projektes betreut.

Ob Stress in der Schule oder in der Familie, Suchterfahrungen oder Aggression – viele Menschen stoßen in ihrem jungen Leben auf Probleme und suchen einen Weg, um mit der Situation umzugehen oder sie zu bewältigen. „Auch ich war in so einer Lage und habe mir damals jemanden an meiner Seite gewünscht, der mir Zuwendung, Anteilnahme und Zeit für Gespräche gegeben hätte“, sagt der 38-Jährige rückblickend.

 

„Hier geht keiner k.o.“

 

Zusammen mit dem lizensierten Kampfsporttrainer Lars Poslednik, mit dem er zunächst privat arbeitete, rief er vor vier Jahren das kostenlose Projekt „Box dich frei“ ins Leben. „Wir sind kein typisches Box-Gym und hier geht auch keiner k.o.“, betont Davide Mebrahtu, „wer zu uns kommt, wird physisch und psychisch fit gemacht, erhält mentale Stärke und Wertschätzung. Jeder wird so angenommen, wie er ist – ungeachtet seiner Herkunft, seiner Kultur und seiner Konfession.“

Das Training findet an einem ungewöhnlichen Ort statt: in den Räumen der Dreieinigkeitskirche (TCC Freiraumkirche) in Rahlstedt. Mit der freikirchlichen Gemeinde ist Davide Mebrahtu seit langem eng verbunden – seine Frau Anja leitet dort seit zehn Jahren die Jugendarbeit. In ihr und in der Gemeinde fand er als orientierungsloser junger Mann Halt. „Wir sind ein Team von Christen aus allen Bereichen der Gesellschaft und leben christliche Werte wie Ehe und Familie. Vor allem sind wir eine fröhliche, tolerante Gemeinschaft – das drückt sich nicht nur moderner Musik im Gottesdienst aus, sondern auch in der Unterstützung für das Box-Projekt“, erklären beide.

 

Gemeinschaft statt Wettkampf

 

Und so sind Besucher nur kurz irritiert, wenn sie erstmals den Raum im ersten Stock einer ehemaligen Lagerhalle betreten und nur wenige Meter neben dem Stehpult für den Pastor die Sport-Ecke erblicken. Rund 80 Quadratmeter des großen Raumes sind mit dicken, roten Matten ausgelegt, von der Decke hängen robuste Boxsäcke.

Lili bandagiert gerade ihre Handgelenke, bevor sie die Boxhandschuhe anzieht. „’Box dich frei’ Ist ein ganz besonderes Training. Wir lernen viel über die richtige Technik beim Boxen, dennoch geht es hier nicht um Leistung und Wettkämpfe, sondern um Gemeinschaft. Nach der Stunde sitzen wir zusammen, reden und Davide gibt uns Worte mit auf den Weg, die einen berühren und stark machen“, sagt die 16-Jährige.

 

Anerkanntes Anti-Aggressions-Training

 

Die Teilnehmer sind in der Regel zwischen 13 und 30 Jahre, lernen sportlich als auch gesellschaftlich ein respektvolles Miteinander, Regeln aufzustellen und anzuwenden. Sie lernen sich Ziele zu stecken, sie zu erreichen und stärken dadurch ihr Selbstbewusstsein. „’Box dich frei’ dient auch als Anti-Aggressions-Training, als Trauma-Therapie und ist gelebte Integration“, betont das ehrenamtliche Trainer-Team. In den Zeiten des größten Flüchtlingszustroms kamen jede Woche bis zu 50 geflüchtete Menschen aus der gegenüber liegenden Erstaufnahmeeinrichtung im Bargkoppelweg zum Training. Viele Asylbewerber leben inzwischen nicht mehr in Rahlstedt, kommen dennoch regelmäßig.

 

Spenden und „Manager-Boxen“ finanzieren das Projekt

 

„Box dich frei“ finanziert sich durch Spenden als auch durch ein zweites Box-Projekt von Davide Mebrahtu und Lars Poslednik, das Manager körperlich fit macht und ihnen Sparringspartner bietet. Durch ihren Monatsbeitrag unterstützen die Teilnehmer das ehrenamtliche „Box dich frei“. Anfänger, Fortgeschrittene und Zuschauer sind eingeladen, bei beiden Projekten reinzuschnuppern.

Von Ammersbek per Boot um die ganze Welt

Im Frühjahr ist Heiko Kröger selten zuhause in Ammersbek, sondern auf Mallorca. „Dort herrschen im März und April ideale Bedingungen für die ersten Trainingseinheiten der neuen Saison“, sagt der sonnengebräunte Blonde.

Doch nicht die Serpentinen des Tramontana-Gebirges interessieren ihn. Dort können sich getrost die Radsportler tummeln – Heiko Kröger zieht es aufs Wasser. Denn er ist leidenschaftlicher Segler und hat nahezu alles gewonnen, was es zu holen gibt. 16 Deutsche Meisterehren gehen auf sein Konto, neun Mal wurde er Weltmeister. Bei fünf Paralympics war er dabei und krönte seine Karriere im Jahr 2000 in Sydney mit der Goldmedaille; 2012 gab’s Silber in London. Weltweit ist kaum ein anderer Segler in der Bootsklasse 2.4mR so erfolgreich wie Heiko Kröger, dem von Geburt an der linke Unterarm fehlt. „Beeinträchtigt hat mich das nie, weder beim Spielen, noch beim Sport.“

Der Ausnahmeathlet wächst in Nordrhein-Westfalen auf; früh setzen ihn die segelbegeisterten Eltern in einen „Opti“, das kleinste Schulboot für Kinder. „Seitdem lässt mich die Faszination Segeln nicht mehr los“, sagt Heiko Kröger, „Technik, Trimm, Taktik, Strategie und Fitness machen den Sport so spannend. Zudem ist Segeln die einzige Sportart, in der Sportler mit und ohne Behinderung gemeinsam oder auf Augenhöhe gegeneinander antreten können – im Segelsport wird Inklusion gelebt.“ Zum BWL-Studium geht der junge Mann nach Kiel, in den Semesterferien mit Studienkollegen im „Laser“ aufs Wasser. Förde, Ostsee, Nordsee, Deutschland, Europa – „Hauptsache wilde Ritte mit Wind und Wellen“. 1997 kommt die Anfrage vom Deutschen Behindertensportverband, ob Kröger die deutschen Farben bei den Paralympics in Sydney vertreten wolle. „Ich musste ziemlich lange überlegen, denn mit ‚Versehrtensport’ hatte ich bisher nichts am Hut.“ Dennoch segelt der junge Familienvater die offenen Weltmeisterschaften mit, belegt den achten Platz von 116 Startern und gewinnt den Titel bei den behinderten Sportlern. „Das war der Paukenschlag – ich wollte mehr!“, erinnert sich der ehrgeizige Athlet.

Als Projektleiter für Inklusion im Sailing Team Germany und Mitglied im Segelkader kann er Beruf und Sport bestens verbinden. „Ich durfte einige der schönsten Ecken der Welt kennenlernen“, resümiert der 51-Jährige, „am besten hat mir Australien gefallen – Natur und Menschen sind überwältigend.“ In den Überseecontainer für das Wettkampfboot kam stets ein Fahrrad, mit dem der sportliche Kosmopolit zwischen Training und Regatten Land und Leute erkundete. Brasilien hat Kröger dagegen nicht in allerbester Erinnerung. Vergangenen Sommer wollte der Einhandsegler bei den Paralympics in Rio de Janeiro noch einmal Edelmetall abräumen – es wurde ein Desaster. „In der verdreckten Guanabara-Bucht hatte sich eine riesige Plastikplane unter meinem Boot verfangen und wirkte wie eine Handbremse“, ärgert sich Kröger noch heute. Es reichte nur für Platz sechs bei den vorerst letzten paralympischen Segelwettbewerben. „32 Nationen müssen im Weltverband für die Weiterführung der Disziplin stimmen, doch nur 27 haben dafür votiert – also ist Segeln aus dem Programm geflogen.“ Für den Vater von fünf Kindern im Alter zwischen zwei und 22 Jahren sind mit der Absage herbe Einschnitte verbunden. Die Spitzenförderung des Verbandes als auch die Prämien der Sporthilfe entfallen, mit der Auflösung des Sailing Teams ist er auch seinen Job los. Nun betreut Kröger als Freiberufler bundesweit Inklusionsprojekte und hält seiner Frau Katharina, die in Hamburg-Poppenbüttel eine Kinderzahnarztpraxis führt, den Rücken frei, kümmert sich um Nachwuchs, Hund und Haus, das die Familie vor fünf Jahren gebaut hat. „Dreimal pro Woche gehe ich weiterhin aufs Ruderergometer, um fit zu bleiben, Gartenarbeit tut das übrige“, sagt der 1,93-Mann lächelnd und gesteht, dass er gern näher am Wasser wohnen würde. Auf den Timmerhorner Teichen lässt sich leider nicht segeln... deshalb wäre Heiko Kröger lieber auf Mallorca.

Ein Platz zum Leben

Im Mittelalter trug der Vogt die Verantwortung für die Bauern eines Dorfes. Entsprechend tragen heute die Mitarbeiter des Vogthofes in Ammersbek die Verantwortung für hilfebedürftige Menschen. In der neben dem gemeindlichen Kulturzentrum idyllisch gelegenen Einrichtung finden derzeit 33 Bewohner ihr Zuhause auf Lebenszeit.

1985 gründeten vornehmlich Eltern aus dem Hamburger Norden die „Sozialtherapeutische Arbeitsgemeinschaft Walddörfer e.V.“, um einen Lebensort auf anthroposophischer Grundlage für volljährige Menschen mit schwerer Behinderung und ihre Betreuer zu schaffen. Nach Kauf, Um- und Anbau des ehemaligen Hofes der alteingesessenen Ammersbeker Bauernfamilie Dassau entstand dort von 1988 bis 1998 ein Lebensraum in vier Wohnhäusern, der sowohl individuellen Bedürfnissen der Bewohner als auch der Gemeinschaft gerecht wird. Darüber hinaus leben 16 Bewohner in zwei Außenwohngruppen am Schüberg in Ammersbek und in Hamburg-Wellingsbüttel. Letztere werden jedoch bald in einen barrierefreien Neubau gegenüber des Vogthofes umziehen, der auch vier Plätze für Pflegebedürftige im Alter vorsieht.

„Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft“, ist ein Leitsatz Rudolf Steiners. „Dessen anthrosophische Menschenkunde ist die Grundlage unserer Arbeit im Vogthof“, sagt Ansgar Frankenstein. „Offenheit, gegenseitig hohe Wertschätzung, Zeit für Menschlichkeit und Gespräche bestimmen unser Miteinander. Dazu zählt nicht nur die gesetzlich vorgesehene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sondern auch die Chance der Teilgabe der Bewohner in ihren Lebensbereichen“, erklärt der Sozialtherapeut, der seit fünf Jahren den Vogthof mit etwa 70 Mitarbeitern leitet. Neben vielen künstlerischen Angeboten, Klangschalen-Therapie und Eurythmie wird Wert auf wiederkehrende Tagesstrukturen gelegt, an denen sich die Bewohner orientieren und Halt finden. Dazu zählen Feiern christlicher sowie jahreszeitlicher Feste, außer dem hat nahezu jeden dritten Tag ein Bewohner oder Betreuer Geburtstag, der individuell begangen wird.

Schon in der ehemaligen Scheune des Bauernhofes wurde in den Anfängen des Vogthofes eine Holzwerkstatt sowie eine Töpferei eingerichtet, in denen die Bewohner je nach Neigung und Befähigung eine sinnvolle Tagesbeschäftigung nachgehen sollten. Später kamen Glas-, Papier- und Kerzenziehwerkstätten hinzu; einige Bewohner kümmern sich in der hofeigenen Wäscherei und Großküche um das Wohl ihrer Mitmenschen. „Die Werkstätten waren und sind nicht auf Verkaufsproduktion ausgelegt, sondern dienen der Alltagsstruktur – das gilt auch für Tagesbetreute, die aus anderen Einrichtungen zu uns kommen. Zudem stärkt das eigene Schaffen das Selbstbewusstsein“, betont Ansgar Frankenstein. Konzentriert arbeitet Katharina mit einem Meißel, schält Span für Span aus einem großen Holzblock. Was unter den Händen der mehrfach gehandicapten Rollstuhlfahrerin entsteht, ist eine wunderschöne Schale aus grob gemasertem Eschenholz, ein Unikat und Schmuckstück für jeden Tisch. Eine Tür weiter kreiert Nina ein farbenprächtiges Mandala aus bunten Glasscherben. Mit Lötzinn eingefasst wird daraus ein einzigartiges Fenstermosaik. Arbeit und Können wird honoriert. Jedes Jahr strömen Hunderte Besucher auf den Frühlingsmarkt des Vogthofes, um individuelle Kunst- und Alltagsgegenstände zu kaufen – Becher und Teller aus Keramik, Tonobjekte für Fensterbank und Garten wie neckische Wasserspeier oder Blumentöpfe mit fröhlichen Henkelgesichtern, Obstschalen aus Holz sowie bunte Fensterhänger aus Glas. Wie ein Rundlingsdorf sind die Wohn- und Werkstattgebäude um ein Rasenrondeel herum angelegt, an dessen Kopfseite das einstige Bauernhaus mit seiner herrschaftlichen Eingangstür steht.

Finanzielle Unterstützung erhält der Vogthof durch die Förderstiftung, die 2008 ihre Anerkennung durch das Innenministerium Schleswig-Holstein erhielt. Etwa 50 Spender tragen mit einem erheblichen Spendenaufkommen zum Wohl und Wirken bei. Die Anfragen nach einem Wohnplatz kommen aus dem gesamten Bundesgebiet; die Warteliste ist lang. Auch bei Praktikanten ist der Vogthof gefragt – sogar weltweit. „Wir hatten bereits Mitarbeiter aus 30 Ländern, die einige Zeit bei uns waren“, weiß Ansgar Frankenstein. Vor vier Wochen kam Danielle aus Togo nach Ammersbek. Ein Jahr wird sie auf dem Vogthof bleiben. „Die anthroposophische Ausrichtung entspricht meinem Menschenbild“, sagt die 21-Jährige. Ich werde in dieser Einrichtung viel für meine berufliche Zukunft lernen, denn auch ich möchte Verantwortung für hilfebedürftige Menschen übernehmen.“

Heiraten in Volksdorf

Heiraten in Volksdorf - zünftig wie ein Großgrundbesitzer oder herrschaftlich wie ein Landedelmann Im Museumsdorf und in der Ohlendorff’schen Villa können Brautpaare sich das Ja-Wort geben Zugegeben, das Stormarnhaus, in dem sich das Standesamt Wandsbek befindet, hat etwas Historisches – schließlich ist es 1929 von dem bekannten Architekten Fritz Höger erbaut worden. Doch es gibt zwei Außenstellen in den Walddörfern, die deutlich mehr Ambiente bieten: der Wagnerhof im Museumsdorf und die Ohlendorff’sche Villa in Volksdorf – beides repräsentative Gebäude mit besonderem Flair für den schönsten Tag im Leben. Im reetgedeckten Wagnerhof, dem originalgetreuen Nachbau eines Durchfahrthauses aus dem 17. Jahrhundert, geben sich Brautpaare unter imposanten Deckenbalken vor dem altdeutschen Herd das Ja-Wort. Generationenlang wurde alles Wichtige an der offenen Feuerstelle verhandelt und besiegelt und auch heute lebt die Historie weiter fort. Auf 200 Quadratmetern finden bis zu 100 Gäste Platz. Auch wenn man es dem Gebäude nicht ansieht – es steckt voll moderner Technik und einer rauschenden Hochzeitsparty steht nichts im Wege. „Diverse Lokalpolitiker, Sportler, Schauspieler und Showgrößen wie etwa Scooter-Frontman HP Baxter haben sich hier trauen lassen“, verrät Museumsleiter Egbert Läufer. Auf Wunsch spannt er Erik und Umberto, zwei Schleswiger Kaltblüter, vor die historische Victoria-Kutsche und chauffiert das frisch gebackene Ehepaar durchs Dorf oder – wenn nicht vor Ort gefeiert wird – zur entsprechenden Lokalität. Herrschaftlich vorgefahren wird auch ein paar Hundert Meter weiter: die Auffahrt der Ohlendorff’schen Villa bietet eine hervorragende Kulisse für den großen Auftritt. Das neo-klassizistische Gebäude mit dem mächtigen Portal wurde 1928 von Hans von Ohlendorff anstelle eines Jagdhauses anno 1878 erbaut. Wo heute im Erdgeschoss Kaffeegeschirr klirrt, klapperten von 1950 bis 2006 Schreibmaschinen – das Haus diente der Stadt Hamburg als Ortsamt für die Walddörfer und erhielt auf Betreiben des Kulturkreises Walddörfer e.V. durch die Stiftung Ohlendorff’sche Villa eine neue Nutzung als Kultur- und Begegnungsstätte. Einen Stock höher, im ehemaligen Gästezimmer des Erbauers und späteren Konferenzraum, befindet sich seit zwei Jahren eine weitere Außenstelle des Standesamtes Wandsbek. Das ansprechend dekorierte Trauzimmer bietet bis zu 20 Personen Platz und offeriert einen atemberaubenden Blick auf die rückwärtige großzügige Parkanlage. Anschließend kann im hauseigenen „Wiener Kaffeehaus“ unter Stuck in der üppig bestückten Bibliothek oder im Licht durchfluteten Wintergarten ausgiebig gefeiert werden. „Nicht nur Brautpaare erliegen dem Charme des Hauses. Für einige Gäste ist der Besuch eine Zeitreise. Manche haben vor Jahrzehnten hier geheiratet und erinnern sich mit Freude“, erzählt Ernstwalter Clees, Vorstandsmitglied der Stiftung Ohlendorff’sche Villa. Auch Standesbeamter Götz Pfalzgraf ist angetan von seinen Außeneinsätzen: „Ich bin gern in Volksdorf, denn die Trauungen sind immer etwas ganz Besonders und lassen die Paare in einzigartiger Umgebung einen unvergesslichen Tag erleben.“ Grundsätzlich gibt es keine Auflagen, um im Wagnerhof oder in der Ohlendorff’schen Villa getraut werden zu können. Das Bezirksamt bevorzugt jedoch Paare, die in Wandsbek gemeldet sind – und die Nachfrage ist groß. Bis zu einem Jahr im voraus können Termine reserviert werden. Im Museumsdorf finden im kommenden Jahr von Mai bis September an acht Freitagen jeweils bis zu fünf Trauungen statt, in der Ohlendorff’schen Villa im April, Mai, September und Oktober an sieben Freitagen jeweils bis zu fünf Trauungen. Informationen und Terminvergaben erfolgen über das Standesamt Wandsbek, Tel. 040/428 81 3429 und per Mail an standesamt@wandsbek.hamburg.de.

Ein Nest für Alstervögel

Ein Nest für 60 Alstervögel Im Maschendrahtzaun klaffen große Löcher, überall wuchert das Unkraut hemmungslos - man muss schon Fantasie haben, um sich an diesem heruntergekommenen Ort sein neues Zuhause vorstellen zu können. Doch die haben Heiner Schoenen und seine Mitstreiter. Auf den ehemaligen Außenplätzen des Tennisvereins Volksdorf-Wensenbalken entsteht bis zum Frühjahr 2018 ein soziales, ökologisches und generationsübergreifendes Wohnprojekt mit Eigenheimen, Eigentums- und Mietwohnungen. Als Baugemeinschaft hat der Verein Alstervogel das Sahnegrundstück in der Steinreye in Volksdorf von der Stadt Hamburg für die Realisierung erhalten. „Es war ein hartes Stück Arbeit und hat viel Kraft gekostet, die Politik zu überzeugen“, erinnert sich Heiner Schoenen, der den Verein 2011 mitbegründete. Seit 20 Jahren lebt der 56-Jährige zur Miete in Volksdorf, seinem Hamburger Lieblingsstadtteil. „Ich hatte zunächst die Idee einer Wohngemeinschaft für gemeinsames Leben im Alter und musste feststellen, dass solche Projekte bisher nur in Hamburgs Mitte, jedoch nicht am Stadtrand realisiert wurden.“ Mit dem Initiator Stefan Fehlauer sowie 13 Freunden und Bekannten machte er sich auf die Suche nach einem geeigneten Grundstück und erweiterte das Konzept auf alle Alters-, Herkunftsklassen. Der Verein Alstervogel fand Unterstützung und Beteiligung der Buchdrucker Genossenschaft, zunächst die Anhandgabe und in diesem Jahr schließlich den Verkauf durch die Stadt Hamburg. Die rot geklinkerte, energieoptimierte Wohnanlage wird aus zwei Reihenhauszeilen mit jeweils sechs bzw. sieben Eigentumseinheiten bestehen. In einem Mehrfamilienhaus stehen elf Eigentumswohnungen zur Verfügung und die Genossenschaft bietet 18 Wohnungen zur Miete an. Ein Gemeinschaftsraum und ein großer Garten laden zum Miteinander ein. „Wir möchten in einer Gemeinschaft leben und uns gegenseitig unterstützen. Statt Anonymität setzen alle Mitglieder auf eine lebendige Nachbarschaft“, erläutert Petra Hardtstock das Konzept. Die 65-Jährige aus Poppenbüttel hält sich „noch zu jung für betreutes Wohnen“ - wie auch Herta Ludwig. Erfolglos versuchte sie lange, in Steilshoop gemeinsame Unternehmungen in ihrer Nachbarschaft zu organisieren – leider erfolglos. „Wer dagegen bei den Alstervögeln mitmacht, möchte mit anderen den Alltag mit einer Mischung aus Nähe und Distanz teilen“, ist sich die 75-Jährige sicher, „Geist und Atmosphäre werden besonders sein.“ „Bei unserem Bau-Projekt finden sich erst die Nachbarn und dann wird gebaut, sonst ist es immer anders herum“, ergänzt Ellen Schwarz-Wiegert (68). 60 Personen, darunter zehn Familien mit Kindern, haben sich bereits gefunden. Vor einem Plenum Eigentümern und Mietern hatte sich jeder Interessierte beworben; potentielle Neuzugänge wurden auf gemeinschaftlichen Wanderungen um die Volksdorfer Teichwiesen „getestet“. „Nicht jeder passte zu den Alstervögeln. So sind auch Bewerber wieder gegangen“, erzählt Heiner Schoenen. Inzwischen sind alle Häuser und Wohnungen vergeben. Reihenhäuser von 125 bis 140 Quadratmetern kosten im Mittel etwa 450 000 Euro, eine Eigentumswohnung mit 55 Quadratmetern rund 210 000 Euro. Für Mietwohnungen liegt die Staffelmiete bei zwölf Euro pro Quadratmeter, sechs Wohnungen werden über den sozialen Wohnungsbau gefördert. Jeder Alstervogel fand das passende Nest - so wie Kirstin (33) und Dimo (37). Seit fast drei Jahren wohnt die junge Familie in Barmbek-Süd. „Schon lange haben wir nach einem Bauplatz in den Walddörfern gesucht, aber nichts gefunden“, sagt die Lehrerin, „wir sind beide in Schneverdingen aufgewachsen und möchten auch unsere Kinder im Grünen groß werden lassen.“ Keine Frage, Liam (3) und Lenamarie (9 Monate) werden jede Menge Spielkameraden in der Nachbarschaft finden – und die Eltern auf Gegenseitigkeit motivierte Babysitter. Auch Guido Mayer freut sich auf umsichtige und tolerante Nachbarn. Der 48-Jährige erblindete vor sieben Jahren und gründete selber ein gemischtes Wohnprojekt für Blinde, Sehbehinderte und Sehende. „Das wird tatsächlich verwirklicht - allerdings in der Neuen Mitte Altona, doch dort ist es mir zu laut und rummelig.“ Wo jetzt noch der rote Grandbelag der alten Tennisplätze liegt, soll im Herbst der Rückbau starten; im Frühjahr 2017 wird mit dem Baubeginn gerechnet, der Einzug der ersten Alstervögel ist für den 5. März 2018 terminiert. Die künftigen Nachbarn in der Steinreye werden regelmäßig von der Baugemeinschaft auf dem Laufenden gehalten. Am 10. September findet von 15 bis 17 Uhr die nächste Info-Veranstaltung vor Ort statt und alle Interessierten sind herzlich eingeladen.

 

 

 

 

Ein Meister der Wörter

Ein Meister der Wörter Wolfgang Thon schreibt Fantasy- und Geschichtsromane und übersetzt renommierte Autoren aus England und den USA Wörter sind wie Spielsachen für Wolfgang Thon. Er schüttelt sie, wirbelt sie durcheinander, arrangiert sie neu und erschafft virtuos Geschichten, Dramen sogar neue Welten mit ihnen. Als Autor und gefragter Übersetzer hat der gebürtige Mönchengladbacher seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Ein kleines Gartenhäuschen dient ihm als Ideenwerkstatt – ohne WLAN und Telefon, aber mit drei Monitoren, Headset, Recherche-Literatur und Kaffeemaschine. Seit 17 Jahren lebt Wolfgang Thon mit Lebensgefährtin Gundula in einem urigen Holzhaus in Volksdorf. „Bei der ersten Besichtigung kam uns ein Reiter auf der Straße entgegen – da wussten wir sofort, dass wir uns hier wohlfühlen würden“, erinnert er sich. Passionierte Reiter sind beide, eine Zeitlang ritten sie sogar „gleich um die Ecke“ in Volksdorf, doch aus Zeitgründen nur noch im Urlaub – an der Algarve, im britischen Exmoor, auf Mallorca. Das mache den Kopf frei für aktuelle und kommende Buchprojekte. International renommierte Autoren wie Will Jordan, Glenn Mead oder Peter F. Hamilton – vielfach Thriller und Science Fiction – übersetzt der 62-Jährige aus dem englischen Original. Eine Herausforderung, denn „man muss die Zielsprache beherrschen, um die Atmosphäre im Text zu fühlen.“ Mit dem hapert es ab und zu, „sodass ich aus einem mittelmäßigen englischen Buch ein gutes deutsches Buch machen muss“, sagt der Sprachkünstler augenzwinkernd. Leichter gehen ihm eigene Geschichten von der Hand. Während seines Studiums der Germanistik, Sprachwissenschaften und Philosophie in Hamburg lektorierte er zunächst schwülstige Liebesromane, begann dann selber im Genre zu schreiben. „Ich habe mich als Lohnschreiber gesehen, nicht als Schriftsteller, der gezwungen ist, der Welt einen literarischen Erguss zu liefern“, resümiert der Brillenträger nüchtern. „Es hat Spaß gemacht und das Geld war leicht verdient – das Taxifahren konnte ich getrost an den Nagel hängen.“ Unter diversen Synonymen veröffentlichte er Titel wie „Die schottische Rose“ oder „Nathalie und der J.R. von New York“. Mit den Jahren verlagerte sich sein Schwerpunkt auf Fantasy und Science Fiction. „Das Lied der Dämonen“, „Das Schwert der Drachen“ und „Die Saat der Götter“ heißen die Titel seiner Prophezeiungen-Trilogie. Im Januar 2017 erscheint sein neuestes Werk, an dem er zur Zeit arbeitet: „Blutiges Land“, ein Historien-Roman aus der Zeit des 30-jährigen Kriegs im 17. Jahrhundert - „mit viel Action auch um die schillernde Figur Wallensteins“ wie der Autor verspricht. Viel Recherche sei nötig, denn die geschichtlichen Daten der Rahmenhandlung müssen stimmen, die Figuren zweier Adliger und eines Müllersohnes sind dagegen Fiktion. „Bevor ich mit dem ersten Band beginne, habe ich bereits das Ende des dritten im Kopf“, sagt Wolfgang Thon. 20 Seiten schaffe er pro Tag. Schreibhemmungen oder Ideenlosigkeit kennt der Schnellredner nicht. Und falls doch, tanzt er einfach eine Runde argentinischen Tango. Seit elf Jahren ist er der Leidenschaft „verfallen“ und reist weltweit zu mehrtägigen Tanz-Events, sogenannten „Encuentros“ – gerade ist er aus dem norwegischen Lillehammer zurück. Auch wenn er als Übersetzer stark gefragt ist, plant Wolfgang Thon schon seine nächsten Werke. Die Merowinger haben es ihm angetan, ein Königsgeschlecht, das vom frühen 5. Jahrhundert bis 751 n. Chr. nicht nur Franken beherrschte. „Außerdem steht eine Science-Fiction-Serie an, in der die Erde nicht mehr bewohnbar ist und die Menschen auf Raumstationen ausweichen müssen, was zu Problemen führt“ - mehr verrät der Autor nicht. Im Kopf ist bereits fast alles fertig – nun muss er noch ein wenig mit den Wörtern spielen...

 

 

 

Die Raumdiebin

Die Fotografin Ruth Stoltenberg ist fasziniert von ungewöhnlichen Perspektiven und sensiblen Orten Ruth Stoltenberg hat viel Geduld, wenn es ums Fotografieren geht – „nur privat nicht ganz so“, gibt sie augenzwinkernd zu. Beharrlich betrachtet sie ihre potentiellen Motive von allen Seiten und aus verschiedenen Perspektiven. „Das entscheidende Bild ergibt sich nicht immer sofort“, weiß die Volksdorfer Fotografin. „Mit meiner Kamera stehle ich ein Stück Zeit und Raum. Ich schneide quasi ein Fragment aus der sogenannten Wirklichkeit aus, löse dadurch die einzelnen Elemente des Bildes von ihrem funktionalen Kontext und komponiere ein neues Bild“, schildert sie ihre Arbeitsweise. Daraus ergeben sich eigenwillige Bilder, die den Betrachter zum Nachdenken und Rätseln bringen – etwa wenn ein Schiff mit einer Häuserfassade zu verschmelzen scheint. Ruth Stoltenberg spielt gern mit optischen Täuschungen, mit Spiegelungen und Bildausschnitten. Viele Fotografien erinnern an Collagen. Visuelle Kommunikation ist und war immer die Leidenschaft der 53-Jährigen. Beim Fernsehsender Premiere, heute Sky, arbeitete sie als Redakteurin zunächst mit bewegten Bildern, verantwortete das Ressort Kurzfilme und begeisterte sich für das typisch offene Ende. Seminare an der Neuen Schule für Fotografie in Berlin bei Wolfgang Zurborn sowie an der Kölner Lichtblickschool prägen ihre Arbeiten bis heute. „Die Wirklichkeit gibt es nicht, denn jeder Mensch hat seine eigene Sicht auf alle Dinge. Die Kamera kann nur ein Stück Realität einfangen, aber die Interpretation liegt beim Betrachter.“ Neben diversen Ausstellungen veröffentlichte sie Foto-Bücher wie „Jeder nach seiner Façon“ über Friedrich den Großen „Die Erfindung des Realen“ sowie „Illusionen entdecken“ über das Entstehen der Hamburger Hafencity. Ständig unterwegs lernte Ruth Stoltenberg das Stasi-Gefängnis und Haftkrankenhaus Berlin-Hohenschönhausen kennen. „Die immer noch präsente Stimmung des Schreckens und der Ohnmacht hat mich sehr berührt und Fragen aufgeworfen, denen ich mit meinen Bildern nachspüren wollte.“ So gaukeln beispielsweise Polsterstühle im tapezierten Verhörzimmer gemütliche Wohnzimmeratmosphäre vor und bilden einen krassen Gegensatz zur karg eingerichteten Zelle. Entstanden sind sensible und schockierend schlichte Bilder ohne jedoch sensationsheischend zu sein. Umfangreiche Gespräche mit Zeitzeugen, die das Martyrium erlebt haben, finden sich zudem im Bildband „Objekt I“. Er wurde kürzlich als eines der zehn besten Kunstfotobücher 2015 ausgezeichnet und erhielt unter anderem den Förderpreis der Stiftung Kunstfonds. Erschienen ist das Buch im Kehrer Verlag. Derzeit ist ein Teil der eindrücklichen Fotografien in einer Wanderausstellung zu sehen. Nach den Gedenkstätten in Erfurt und Gera zeigt Ruth Stoltenberg ihre Werke bis zum 1. Oktober in der Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock. Gefördert wird die Ausstellung vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen der ehemaligen DDR, Roland Jahn, der auch das Vorwort geschrieben hat. Ein deutlich lebenslustigeres Thema hat die gebürtige Rheinland-Pfälzerin derzeit in Arbeit. „Ich erfülle mir einen Herzenswunsch und porträtiere meine Heimat um Trier.“ Mit „Schengen“ geht sie der Grenzöffnung nach über 20 Jahren auf den Grund und forscht nach deren Einfluss auf Kultur und Lebensgewohnheiten der Menschen im Dreiländereck. Zudem sucht und findet sie augenzwinkernd kuriose Eigenheiten der kleinen Grenzorte in Deutschland, Frankreich und Luxemburg wie etwa lebensgroße Pappkühe am Straßenrand des französischen Dorfes Apach. Im Rahmen des 7. Europäischen Monats der Fotografie Berlin sind einige Werke vom 15. Oktober bis 12. November im Kunst- und Kreativhaus Potsdam zu sehen. „Man wüsste deutlich weniger übers Leben, wenn die Fotografie nicht wäre“, lautet das Credo der engagierten Fotografin, die in Zukunft gerne Kurse anbieten möchte. „Vom Aufbau eines Fotos übers Sortieren und Archivieren der Bilder bis hin zur Gestaltung eines Fotobuches verrate ich ambitionierten Hobby-Fotografen gerne Tipps und Tricks – selbstverständlich auch, wie man die nötige Geduld bei der Motivsuche aufbringt“, sagt Ruth Stoltenberg lächelnd.