
Mein Wecker klingelt um 3.45 Uhr. Ungläubig starre ich auf die Anzeige. Dann dämmert es mir. Ich bin ja heute auf Rehkitz-Rettungsmission! Schlaftrunken erledige ich nur das Nötigste im Badezimmer. Skiunterwäsche, Thermoeinlegesohlen für die Gummistiefel, Wollmütze – das sollte reichen bei frostigen fünf Grad Außentemperatur. Rein ins Auto und ab zum Hof „Lütte Lohe“ in Wilstedt.
Um 4.15 Uhr herrscht in den Kuhställen noch Nachtruhe. Doch dann wird es auf dem Hof lebendig. Nach und nach trudeln 25 Freiwillige ein, die sich über eine WhatsApp-Gruppe für den Einsatz gemeldet hatten. Sie kommen aus Sasel, Norderstedt und Henstedt-Ulzburg und sind zum Teil sogar noch früher aufgestanden als ich. Doch für Müdigkeit ist keine Zeit – es muss zügig losgehen. Marte Sach, die Vorsitzende des Vereins Rehkitzrettung Tangstedt, hat im Vorwege fünf Gruppen eingeteilt. Für mein Team geht es zunächst zu den Sommerwiesen vom Hof „Lütte Lohe“ an der Wakendorfer Straße. Es ist stockdunkel. Die Dämmerung ist am Horizont nur zu erahnen und der Vollmond schafft über den schlafenden Feldern eine romantische Atmosphäre.
Pilot Manfred Kraski hat die Drohne schon in die Luft gebracht. Mit 18 Stundenkilometern fliegt der Tangstedter in 50 Metern Höhe die Wiese ab, die der Landwirt in wenigen Stunden abmähen möchte. Sind die Erntemaschinen erst unterwegs, gibt es für Tiere, die im hohen Gras Unterschlupf gefunden haben, kein Entrinnen – ihnen drohen grausame Verletzungen durch die scharfen Messer und ein qualvoller Tod. Ohne Chance für junge Rehkitze, denn sie haben kein Fluchtverhalten. Sie bleiben reglos dort liegen, wo ihre Mutter sie abgelegt hat. Die Ricke kommt nur zweimal am Tag vorbei, um ihren Nachwuchs zu säugen. In der übrigen Zeit bleibt er sich selbst überlassen – allein und unbemerkt.
Doch Drohnen können sie aufspüren und rechtzeitig in Sicherheit bringen. Dank einer Wärmebildkamera sind Temperaturkontraste im Vergleich mit der Umgebung auf dem Kontrollbildschirm zu sehen, den Co-Pilotin Helke Kattner aufmerksam im Blick hat. Plötzlich ist ein roter Punkt zu sehen! „Manne, geh‘ mal runter – da liegt was!“, ruft die Tangstedterin. Wir vier „Läufer“ machen uns bereit. Mit einem Schlag ist meine Müdigkeit weg. Alle sind hellwach. Wenig später: Entwarnung. „Nur“ ein Hase – groß genug, um vor den Maschinen wegzulaufen. Fazit: Die Wiese ist „kitzfrei“.
Auf dem Feld auf der anderen Straßenseite sieht es ganz anders aus, was wir um 5.30 Uhr aber noch nicht wissen. Schon nach wenigen Minuten wieder ein roter Punkt auf dem Monitor. Und dieses Mal zeigt das Zoom: Es ist tatsächlich ein Reh-Baby! Jetzt muss alles sehr schnell gehen. Wir spurten mit übergroßem Kescher und Transporttasche los. Das nasse, kniehohe Gras klatscht gegen meine klammen Hosenbeine – unangenehm. Unbedingt Regenhose anziehen, notiere ich im Geist für ein etwaiges nächstes Mal. Die Drohne surrt derweil über dem Fundort und lotst uns quer durchs Feld. Ich japse nach Luft und stelle erstaunt fest, dass inzwischen die Sonne aufgegangen ist.
„Langsam, hier muss es irgendwo sein“, verlangt Dörte Trau, die als Landwirtin und Jägerin bei vielen Einsätzen dabei ist und entsprechend Routine hat. Vorsichtig streift sie das hohe Gras auseinander. Und tatsächlich: Da liegt es! Knapp so groß wie eine kleine Hauskatze, mit großen schwarzen Kulleraugen und den typisch weißen Flecken im Fell. Der Anblick lässt mein Herz schmelzen. Nicht auszudenken, wenn dieses Bambi ein Opfer des Mähwerks geworden wäre.
Geübt stülpt Dörte Trau den Kescher über das nur wenige Tage alte Jungtier, reißt mit ihren Handschuhen ein paar Grasbüschel aus, greift das Kitz damit und legt es vorsichtig in die mitgebrachte Tasche. Verschlafen lässt es alles mit sich geschehen. „Wichtig ist, das Tier nicht mit bloßen Händen zu berühren, da der menschliche Geruch verhindert, dass die Rehmutter ihr Junges später wieder annimmt“, erklärt die Tangstedterin.
Fasziniert habe ich bisher nur zugeschaut. Jetzt drückt mir Dörte Trau die Stofftasche in die Hand. Erstaunlich leicht ist die wertvolle Fracht – kaum schwerer als eine Tüte Milch. Tatsächlich wiegt ein Rehkitz kurz nach der Geburt nur etwa ein Kilogramm. Wir parken unseren tierischen Fund am Wiesenrand. Der Landwirt bekommt die GPS-Daten des Standortes. Er oder Vereinsmitglieder lassen das Kitz nach dem Mähen wieder frei.
Euphorisch machen wir uns auf den Rückweg, da entdeckt die Drohne weiteren Rehnachwuchs. Wieder geht es im Hundert-Meter-Spurt über die Wiese. Wieder erlebe ich einen Bambi-Augenblick. Wieder bin ich einfach nur glücklich, ein Leben gerettet zu haben.
Um 7.15 Uhr packen wir zusammen – Mission erfüllt. Vier Felder mit insgesamt 24 Hektar hat mein Team erfolgreich abgesucht. Ich freue mich auf einen warmen Kaffee, der im Auto auf mich wartet – und eine trockene Hose.
Am späten Vormittag berichtet mir Marte Sach per Telefon, dass an diesem Morgen auf 84 Hektar 13 Kitze gesichert werden konnten. Für den jungen Verein, der sich erst im vergangenen Jahr gegründet hat, ist es die zweite Saison und er kann sich über viele Anfragen freuen. Bereits 30 Landwirten in allen sieben Tangstedter Ortsteilen lassen ihre Felder vor den Mäharbeiten abfliegen, vermeiden unnötiges Tierleid und Geldstrafen bis zu 10000 Euro, falls sie gesetzlich verpflichtende Schutzmaßnahmen unterlassen.
Bis Mitte Juni sicherten die Tangstedter in diesem Jahr bereits 28 Kitze. Laut Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung konnten 2024 auf 250500 Hektar 22435 Rehkitze gerettet werden – auch dank diverser Förderprogramme für Drohnen. So erhielt der Verein Rehkitzrettung Tangstedt im April von der Alsteraktivregion Alsterland eine Finanzspritze für eine Drohne mit Wärmebildkamera im Wert von 6900 Euro.
Marte Sach wünscht sich neben dem anhaltenden Engagement der 70 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer zwei zusätzliche Drohnen, für die Spenden benötigt werden. Wer den Verein unterstützen möchte, erhält Infos unter www.rehkitzrettung-tangstedt.de.