
Tangstedt. Für den Verein Rehkitzrettung Tangstedt haben die arbeitsreichsten Wochen des Jahres begonnen, denn die Landwirte sind in die Mähsaison gestartet – aktuell Gras für Silage, später für Heu. Um Kitze vor den scharfen Messern der Maschinen und einem qualvollen Tod zu bewahren, werden die Felder zuvor mit Wärmebild-Drohnen abgeflogen.
Aktiver Tierschutz heißt früh aufstehen – sehr früh. Für Astrid Ernst klingelt der Wecker um 3.45 Uhr. „Einfache ‚Katzenwäsche’ muss reichen“, da ist die 62-Jährige ganz pragmatisch. Stulle und Tee hat sie schon am Vorabend vorbereitet. Wollmütze und Handschuhe liegen bereit. Rein in die Gummistiefel und ab zum Hof „Lütte Lohe“ in Wilstedt.
Bis 4.30 Uhr trudeln dort 25 Freiwillige aus Hamburg-Sasel bis Henstedt-Ulzburg, ein, die sich über eine Whats-App-Gruppe gemeldet haben. Hier und da wird mühsam ein Gähnen unterdrückt, dann starten vier Teams in den sechsten Einsatztag des jungen Vereins, der 2024 gegründet wurde.
Für Astrid Ernst geht es zu den Sommerwiesen vom Hof „Lütte Lohe“ an der Wakendorfer Straße. Fünf Grad Außentemperatur, kurz vor Sonnenaufgang. Der Vollmond über den schlafenden Feldern schafft eine romantische Atmosphäre, doch dafür haben die Rehkitzretter kaum einen Blick. Pilot Manfred Kraski hat bereits das Equipment ausgeladen: „Abflugtisch“, Drohnenkoffer und – einen Notenständer. Nicht für morgendlichen Gesang, sondern für den Bildschirm, der mit der Drohne gekoppelt ist. Die ist inzwischen in der Luft. Mit 18 km/h in 50 Meter Höhe.
„Manne, geh‘ mal etwas tiefer – das könnte ein Kitz sein“, ruft Helke Kattner, die das Wärmebild konzentriert im Blick hat. Anspannung und aufkommende Freude macht sich breit. Doch nach Sinkflug und Zoom – Entwarnung. Nur ein Hase. Groß genug, um sich vor den Mähmaschinen selbst in Sicherheit zu bringen, während die jüngsten Reh-Babys kein Fluchtverhalten zeigen und sich bei lauten Geräuschen dicht an den Boden drücken.
Astrid Ernst hadert inzwischen mit ihren Gummistiefeln. „Ich habe eiskalte Füße“, jammert die Naturliebhaberin. „Als Nächstes kaufe ich mir eine Nummer größer, dann passt noch ein Paar warme Socken mehr hinein.“
Alarm – auf dem Kontrollmonitor ist wieder ein roter Punkt zu sehen. Das Zoom zeigt: Es ist ein Kitz! Müdigkeit und Kälte sind auf einen Schlag vergessen. Zu dritt spurten die „Läufer“ durch das kniehohe, nasse Gras. Die Drohne steht derweil surrend über dem Fundort. „Langsam, hier muss es irgendwo sein“, japst Landwirtin und Jägerin Dörte Trau leicht außer Atem. Vorsichtig sucht sie die Umgebung ab – gefunden! Nahezu unsichtbar im hohen Gras liegt ein etwa katzengroßes Kitz mit den typischen weißen Felltupfen. Geübt stülpt die Tangstedterin einen großen Kescher über das nur wenige Tage alte Tier. Verschlafen bleibt es ruhig liegen und scheint die spontanen Besucher kaum wahrzunehmen.
Um das Jungtier nicht mit dem Menschengeruch zu „kontaminieren“, der die Reh-Mutter hindern würde, ihr Junges später wieder anzunehmen, tragen alle Helfer Handschuhe. Die 26-jährige Merle Poggensee aus Henstedt-Ulzburg hat während des Wiesenspurts schon ein paar Grasbüschel ausgerissen. Damit hebt Dörte Trau das Kitz vorsichtig an und legt es in eine Transporttasche. Alles muss schnell gehen, damit der Stress für das Jungtier möglichst gering ist. So gesichert, wird es am Feldrand „geparkt“. Der Landwirt bekommt die GPS-Daten des Taschen-Standortes und lässt das Kitz nach dem Mähen wieder frei.
Für Astrid Ernst ist es ihr erstes Reh-Baby. „Ich bin überglücklich, ein wertvolles Leben gerettet zu haben“, freut sich die Norderstedterin. Doch dafür bleibt wenig Zeit. Schon meldet das Walkie-Talkie wieder einen Fund – nur etwa 100 Meter entfernt. Euphorisch und trotz klatschnasser Hosenbeine sprinten die „Läufer“ wieder los. Auch das zweite Findelkind wird routiniert und problemlos „verpackt“.
Inzwischen ist es 7.15 Uhr. Zehn Grad, die Sonne scheint. Mücken stürzen sich ungehemmt auf ihre zweibeinigen Opfer. Bei denen macht sich Müdigkeit breit. Auch weil es über eine halbe Stunde keine Erfolgsmeldungen mehr gab. Vier Felder mit insgesamt 24 Hektar sind bereits abgeflogen. Feierabend. „Ich hätte jetzt gerne einen starken, warmen Kaffee“, wünscht sich Pilot Manfred Kraski.
Ein erfolgreicher Morgen geht für alle Retter-Teams zu Ende. Insgesamt wurden auf 84 Hektar 13 Kitze aufgespürt und vor dem brutalen Mähtod gerettet – dabei hat die Saison gerade erst begonnen. Bis Ende Juni erhält der Verein fast täglich neue Anfragen. 23 Landwirte in allen sieben Ortsteilen Tangstedts sind bereits mit von der Partie – sehr zur Freude der Vereinsvorsitzenden Marte Sach. Sie wünscht sich neben dem anhaltenden Engagement der 70 ehrenamtlichen Helfer zwei zusätzliche Drohnen, für die Spenden benötigt werden – eines dieser Flugobjekte kostet samt Zubehör stolze 6000 Euro.
Wer den Verein unterstützen möchte, bekommt weitere Informationen auf der Homepage www.rehkitzrettung-tangstedt.de.